Bis heute pocht sie beim Schreiben auf einen Zustand zwischen Aussprechen und Verschweigen. Seit ihrem Erstling „Vorabend“ konnte man beobachten, dass diese Autorin nicht viel vom kompakten, kohärenten Erzählen hielt. Ihr erzählerisches Mittel ist die Erzeugung einer Klangwolke, ein Balancieren zwischen Wachzustand und Traum. Das Vergangene sollte mit diesem Verfahren nicht zu viel Gewicht erhalten und der Text eine Vorahnung aller künftigen Möglichkeiten eröffnen.
Das ist auch in ihrem aktuellen Roman „Späte Gäste“ der Fall: eine
literarische Totenmesse des Ichs für ihren verstorbenen Mann Orion. Spät am
Abend ist die Erzählerin in das verlassene Dorf an der italienischen Grenze
gekommen. Sie will die Nacht vor der Beerdigung am Waldrand im Wirtshaus zubringen,
in einer verblichenen Herrschaftsvilla. Bedrängt von halluzinatorischen
Erinnerungen, verbringt die Frau die Nacht. Nach und nach steigen Sequenzen des
krisenhaften Zusammenlebens mit dem Architekten Orion und der gemeinsamen
Tochter auf. Es sind verstörende Sequenzen der Beziehung mit einem dem Alkohol
verfallenen Mann, der - gleichzeitig originell und weltfremd - lange Jahre die
Lebenskreise der Erzählerin bestimmt hatte.
Gertrud Leutenegger: Späte Gäste. Roman Suhrkamp Verlag, 2020. 174 S.
Gertrud Leutenegger
Die 1948 in Schwyz geborene Schriftstellerin Gertrud Leutenegger debütierte 1975 mit dem Roman „Vorabend“. Mit einer Mischung aus lyrischem Ton, Kindheitserinnerungen und Reflexion der 68-Proteste zog sie auf Anhieb die Aufmerksamkeit von Lesern und Kritikern auf sich. Mit ihr meldete sich eine neue Stimme innerhalb der Schweizer Literatur zu Wort, die sich durch eigene Nuancierung und Themen abhob. Seither legt sie in regelmässigen Abständen Romane vor. Zu den wichtigsten gehören „Ninive“ (1977), „Kontinent“ (1985), „Meduse“(1988) oder die Erzählung „Acheron“ (1994).
Gertrud Leutenegger lebte lange Jahre im Tessin, hielt sich aber auch in Florenz, Berlin und Japan auf. Nach einer längeren Schreibpause war sie 2004 mit dem Roman „Pomona“ plötzlich wieder da und führte die Reihe erfolgreicher Romane mit „Panischer Frühling“ (2014), für den sie für die Shortlist des Deutschen Buchpreises nominiert wurde und zuletzt mit dem Roman „Späte Gäste“ (2020) fort.