Erzählung
Goethes zweite Schweizer Reise 1779 hätte gut die letzte des damals
Dreißigjährigen sein können, und der "Werther" sein einziges bekanntes
Werk. Denn das Risiko einer neunstündigen Fußwanderung über die Furka im
November durch Neuschnee war unberechenbar. Aber der frisch ernannte
Geheimrat hatte es auf den kürzesten Weg zu seinem heiligen Berg, dem
Gotthard, abgesehen, seinen acht Jahre jüngeren Landesfürsten Carl
August mitgenommen und alle Warnungen in den Wind geschlagen. Adolf
Muschg liest diesen 12. November, den "weißen Freitag", die Wette
Goethes mit seinem Schicksal, als Gegenstück zu Fausts Teufelswette und
zugleich als Kommentar zum eigenen Fall eines gealterten Mannes, der mit
einer Krebsdiagnose konfrontiert ist. Als Zeitgenosse weltweiter Flucht
und Vertreibung und einer immer dichteren elektronischen Verwaltung des
Lebens findet er gute Gründe, nach Vorhersagen, Warnungen und
Versprechen in einer Geschichte zu suchen, die gar nicht vergangen ist.
Sie handelt vom Umgang mit dem Risiko, dem auch der noch so zivilisierte
Mensch ausgesetzt ist, weil er es als Naturgeschöpf mit Kräften zu tun
hat, die er nicht beherrschen kann.
Muschg hat mit dieser Doppelbelichtung zweier Reisen sein persönlichstes
Buch geschrieben und sich ihrem bei aller Verschiedenheit gemeinsamen
Grund genähert, den man nur im Erzählen ahnt – mit immer noch offenem
Ende und doch im Wissen um die Endlichkeit, die nicht zu überschreiten
ist.
Adolf Muschg: Der weisse Freitag. C.H. Beck 2017
Adolf Muschg
Geboren am 13. Mai 1934 in Zollikon als Sohn eines Volksschullehrers. Er studierte an der Universität Zürich Germanistik, Anglistik und Philosophie und promovierte bei Emil Staiger mit einer Dissertation über Ernst Barlach. Adolf Muschg ist ein Doppeltalent: Ab 1970 war er Ordentlicher Professor für Deutsche Sprache und Literatur an der ETH Zürich. Gleichzeitig legte er 1965 mit seinem Erstling „Im Sommer des Hasen“ einen fulminanten literarischen Start hin. Seither ist ein imponierendes literarisches Werk entstanden, für das er 2015 mit dem Schweizer „Grand Prix Literatur“ ausgezeichnet wurde. Muschg ist ein Meister der verschlungenen Romankonstruktionen, in die er ein immenses Wissen aus der Politik, Geschichte, Psychoanalyse und Sozialgeschichte versteckt. Seine Meisterschaft besteht in der Abbildung der Unübersichtlichkeit des heutigen Lebens im Beziehungsleben seiner quecksilbrigen Figuren.