Ein politisches
Manifest? Eine geistreiche Satire aus den Büros der EU-Kommission?
Geschichtsklitterung zugunsten der eigenen Europaliebe und der Idee der
Überwindung der Nationen? Auf jeden Fall ist Robert Menasses EU-Epos ein unterhaltsames,
blitzgescheites und kontroverses Stück Literatur. „Die Hauptstadt“ (2017) wurde
weltweit als erster Roman der Europäischen Union gefeiert und rangierte
wochenlang unter den Top 10 der Literatur. 2017 erhielt der österreichische
Schriftsteller dafür den deutschen Buchpreis. Ein Jahr später entzündet sich
eine Debatte um den Wahrheitsgehalt verwendeter Zitate des ersten
Kommissionsvorsitzenden der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (1958), Walter
Hallstein, den Menasse als einer der ersten Verfechter der Idee der Überwindung
der Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg ins Feld führt. In Wahrheit, so
Menasses Kritiker, habe Hallstein der Vision eines Supranationalstaates sogar
widersprochen.
Wie auch
immer die Debatte über Europa, den Nationalstaat sowie das Verhältnis von Fiktion
und Fakten in der Literatur ausgeht: Robert Menasse gehört zu den interessantesten
Autoren der Gegenwart. Dass der österreichische Schriftsteller und Essayist ein
wortgewaltiger Romancier ist, der keineswegs nur das politische Register zieht,
sondern auch das Fach der Liebesgeschichten, der Familiensaga, des
Kriminalroman und der Gelehrtensatire beherrscht, zeigen viele seiner Romane und
Erzählungen. Auch darüber wollen wir reden.
Robert
Menasse wurde 1954 in Wien in einer jüdischen Familie geboren. Sein Vater hatte
Österreich im Jahre 1938 mit einem der letzten Rettungstransporte für jüdische
Kinder in Richtung England verlassen können. Menasses Halbschwester Eva Menasse
ist ebenfalls als Schriftstellerin tätig.
Menasse
studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte in Wien, Salzburg und
Messina. 1980 promovierte er mit einer Arbeit über den „Typus des Aussenseiters
im Literaturbetrieb“. Von 1981-1988 war er als Lektor und Dozent am Institut
für Literaturtheorie an der Universität São Paulo in Brasilien tätig.
Leseempfehlungen Robert Menasse
Büchertisch
Buchhandlung Hottingen
Die Hauptstadt
Roman
Fenia
Xenopoulou, Beamtin der Generaldirektion Kultur der Europäischen Kommission,
steht vor einer schwierigen Aufgabe. Sie soll das Image der Kommission
aufpolieren. Aber wie? Sie beauftragt den Referenten Martin Susman, eine Idee
zu entwickeln. Die Idee nimmt Gestalt an – die Gestalt eines Gespensts aus der
Geschichte, das für Unruhe in den EU-Institutionen sorgt. David de Vriend
dämmert in einem Altersheim gegenüber dem Brüsseler Friedhof seinem Tod
entgegen. Als Kind ist er von einem Deportationszug gesprungen, der seine
Eltern in den Tod führte. Nun soll er bezeugen, dass er im Begriff ist zu
vergessen.
In seinem
neuen Roman spannt Robert Menasse einen weiten Bogen zwischen den Zeiten, den
Nationen, dem Unausweichlichen und der Ironie des Schicksals, zwischen
kleinlicher Bürokratie und grossen Gefühlen.
Und was
macht Brüssel? Es sucht einen Namen - für das Schwein, das durch die Strassen
läuft. Und David de Vriend bekommt ein Begräbnis, das stillschweigend zum
Begräbnis einer ganzen Epoche wird: der Epoche der Scham.
Robert Menasse: Die Hauptstadt. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017